last update 13.11.06  
 

Einführendes zum Werk:
Bei dem Buch-Projekt >Enzyklop< handelt es sich auf den ersten Blick — und nach sofort ersichtlicher und folgerichtiger Deutung des Arbeitstitels - um nichts weiter als um eine Zusammenstellung von Wörtern, welche alphabetisch aneinander gereiht worden sind. Allein schon dadurch definiert sich das Genre des Werkes, nämlich das der Nachschlagewerke. Die Aufmachung des Buches soll den unkomplizierten und allfälligen Eindruck von Seriösität und Glaubhaftigkeit erwecken. Der Leser soll zumindest anfangs glauben, ein normales Wörterbuch oder Lexikon vor sich zu haben. Umschlag, Titel und Layout tragen diesem Umstand Rechnung.

Die Ursache:
Den Anstoß zu dem vorliegenden Werk gab vor einigen Jahren die künstlerische Auseinandersetzung mit Herders Volkslexikon (Ausgabe 1956). Durch das Studium und die Verwendung des Bild- und Textmaterials in Collagen wurde ich auf anregende, über die Rezeption hinausgehende Weise mit dem absurden und surrealen Charakter eines typischen Allgemeinlexikons vertraut. Später kamen Nachschlagewerke anderer Herausgeber und Zeiten hinzu; an meinen neuen, grundlegenden Erkenntnissen über das vielfältige Wesen der Lexikalität haben aber auch Kindler, Brockhaus und andere große Namen nichts mehr geändert.

Lexika im Allgemeinen, der Enzyklop im Speziellen:
Vor allem in den in Normalhaushalten meist verbreiteten älteren Lexikon-Ausgaben erscheinen viele Einträge durch die Diskrepanz zwischen bereits veraltetem Wissensgehalt und dem jeden Einwand ausschließenden wissenschaftlichen Tonfall nahezu absurd. Auch die meisten ªneuesten Auflagen´ übernehmen diese Wirkung, da sie sich doch stets aus den alten Quellen generieren. Der surreale Aspekt eröffnet sich dem Leser, wenn er im zufälligen Nebeneinander von Begriffen und Abbildungen mehr als nur die alliterative, alphabetische Aufzählung von erläuterten Schlagwörtern sucht. Allein durch die gemeinsame Aufnahme zwischen zwei Buchdeckeln rücken die verschiedensten Dinge nahe zusammen - näher, als es den Gelehrten der Welt lieb sein kann: >Erörtern, Eros und Erosion< zum Beispiel lassen sich nämlich - aller sogenannten Logik zum Trotz - durchaus in eine sinnvolle Beziehung zueinander bringen. Als Resultat dieser kaum berechenbaren Zusammenhänge gesellen sich zu den bestehenden, von den Lexikonautoren vermittelten anerkannten Inhalten also vielfältige neue Bedeutungen dazu. Das Anliegen des >Enzyklop< ist es, diesen Wechselwirkungen zwischen dem statischen Wissen unserer Welt eine annähernde Geltung zu verschaffen, indem es eine redaktionell durchdachte Auswahl der letztendlich endlosen Sekundärbeziehungen vorstellt. Es bleibt allein bei der Präsentation. Die übergreifende Deutung des gesamten Umstandes bleibt vorerst dem Benutzer selbst überlassen.

Der Inhalt
Nach den ersten Jahren meiner Beschäftigung als Sublexikograph konzentriere ich mich auf rund 4.000 Begriffe. Zum größten Teil sind es Neuschöpfungen, welche durch kleine Veränderungen an existierenden Wörtern oder durch Neukombinationen von Bedeutungseinheiten entstanden sind. Die meisten habe ich durch assoziative Verfahrensweisen gefunden; gelegentlich waren aber auch gezielte Recherchen in einzelnen Wortgruppen notwendig. Entstanden ist eine Sammlung von Wörtern für Inhalte, welche es bislang noch nicht gibt - beziehungsweise von Inhalten, für welche es bis jetzt noch kein Wort gab. Das Besondere an jedem der Worte ist nun gerade dieses Neuland, welches der Lesende durch das Lesen entdeckt und ausgestaltet. Seine Kreativität und Interpretationsgabe erfindet zu den Worten Vorstellungen, Begriffe, Bilder. Im Unterschied zum Lesen von ªnormalen´ Wörtern ist dies für das Lesen des >Enzyklops< aber unabdingbar; gleichzeitig wird dem Leser ebendieser Prozess auch bewusst. Das Interpretationsfeld ist von Wort zu Wort unterschiedlich groß. Es gibt sehr konkrete Einträge, welche dem Leser wenig Freiheit bei diesem Vorgang lassen. Es finden sich aber auch Wörter in der Sammlung, welche das Spielfeld von Möglichkeiten bewusst weit fassen.

Die Form
Es gibt wohl keine andere Form als die des Lexikons selbst, um diese Zusammenstellung von Wortschöpfungen nebeneinander bestehen zu lassen. Die reallexikalische Tradition gibt eine minimale Struktur vor (das Stichwort bzw. die alphabetische Aufreihung von Stichworten), lässt bei Bedarf aber die Möglichkeit offen, ein Schlagwort durch Anfügen von Genus, einer Wortfamilie, einer Erklärung, eines Beispielsatzes, eines Verweises oder eines Bildes näher einzugrenzen oder aber auch wieder aufzulösen und durch neue Interpretationsmöglichkeiten zu erweitern. Gleichzeitig wird via Verweis und Erklärung ein zusätzlicher Zugriff von vermeintlich inhaltlicher Natur auf andere Schlagworte ermöglicht und mit dieser Textur die Fiktion des Sachbuches länger aufrechterhalten.

Die Funktion
Das entstandene Werk als Essenz einer Vielzahl enzyklopädischer Einträge verschiedener Quellen gibt nun also vor, seinerseits eine Enzyklopädie zu sein - ein Buch, welches dem Erhalt und der Verbreitung von Wissen und objektiver Wahrheit dienen soll. Der Inhalt bewirkt durch seine Subversivität jedoch etwas Gegenteiliges, nämlich die Relativierung von Wahrnehmung und die Auflösung oder zumindest Erweiterung begrifflicher Grenzen. Er macht den Prozess des Lesens und der Begriffsbildung durch das Eintauchen in die Materialität von Wörtern auf eine belebende, sinnlich unsinnliche Art sichtbar.

Eckdaten:
Originalausgabe
November 2001
Edition diá, Berlin
168 Seiten mit rund 3500 Stichworten und 190 Abbildungen,
18 x 11,7 cm, Hardcover, zweifarbiger Schutzumschlag
Euro 17.-/ sFr 32.-
ISBN 3-86034-153-7